Mittwoch, 20. April 2011
Nr. 1 Das Rollermädchen
Er beugt sich noch einmal zu dem Mädchen, nimmt sie in den Arm, küsst sie auf die Wange, dreht sich um und geht. Das Rollermädchen steht vor ihrem Roller. Hält sich an ihrem Helm fest. Sie hat das Gefühl, sie kippt sonst um. Er geht. Er geht – ohne sich noch einmal umzublicken. Und ein Stück ihres Herzens weiß noch nicht, wohin es gehört. Das Rollermädchen setzt sich auf ihre Vespa, tritt sie an und knattert langsam davon. Wie in Trance fährt sie nach Hause. Sie weiß nur eins, er nimmt den Nachtzug nach Zürich. Zurück in seine Heimat, weil das Heimweh ihn fast auffrisst. Er kann nicht länger bleiben.
Das Rollermädchen packt ein paar Sachen zusammen, sucht die Verbindung heraus und steht am Bahnsteig, als der Zug einfährt.
Als sie die Türe zum ersten Abteil öffnet, hält sie die Luft an. Nichts! Abteil zwei, da ist er auch nicht. Im dritten Abteil hat sie Erfolg. Unglücklich sieht er aus. Sie öffnet die Abteiltüre – er blickt sich nicht um, starrt weiter bewegungslos aus dem Fenster. Das Rollermädchen atmet tief ein, ihr Mut treibt sie an, sich neben ihn zu setzen. Keine Reaktion. Das Rollermädchen fasst sich ein Herz, kramt nach ihren Zigaretten, hält ihm das Päckchen unter die Nase: „Wenn Du möchtest, rauchen wir im nächsten Bahnhof noch eine Zigarette. Wenn nicht, dann geh ich und du wirst mich nie wieder sehen“. Er löst sich irritiert aus seiner Versteinerung. Dem Mädchen rutscht beinahe das Herz in die Hose. Sie hält die Luft an – vor Anspannung und Aufregung.
Erst blickt er auf die Zigaretten, dann in das Gesicht des Rollermädchens. Die Überraschung ist kaum zu übersehen – am liebsten hätte sich das Rollermädchen sofort aus dem Staub gemacht. Die Sekunden, bis er sie endlich in den Arm nimmt, vergehen wie Stunden. Mit seinem unwiderstehlichen Schweizer-Akzent flüstert er: „Danke Rollermädchen, dass Du hier bist!“ Das Rollermädchen atmet erleichtert auf, jetzt weiß sie, dass es nicht bei dieser letzten Zigarette bleiben würde. Der Zug hat sich mittlerweile in Bewegung gesetzt – draußen rasen Landschaften vorbei – die Sonne geht unter und das Rollermädchen und ihr Schweizer fahren gen Süden.

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